Vor dem Weltkrieg
Vor dem Weltkrieg
Neue und alte Konflikte – Parallelen der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und heute
Ein Beitrag von Dr. Jürgen Wächter
Schaut man sich die Lage der derzeitigen Welt an, zeigen sich zahlreiche Parallelen zur Zeit vor dem ersten Weltkrieg, u. a. geopolitisch, ökonomisch und psychologisch.
Dem Ersten Weltkrieg gingen zahlreiche Konflikte voraus, wie die um die Krügerdepesche 1896, das Doggerbankscharmützel 1904, die Bosnische Annexionskrise 1908, die Marokkokrisen 1906/1911 sowie die Balkankriege 1912 und 1913. All diese Krisen konnten gelöst werden, doch das Misstrauen und die Kriegsbereitschaft unter den Staaten erhöhte sich kontinuierlich.
Und so ist es derzeit auch. Nicht nur in der Ukraine ist der Krieg bereits Realität. Zwischen Kosovo und Serbien kriselt es. Ebenso eskaliert die Situation zwischen Armenien und Aserbeidschan, wo zehntausende Menschen auf der Flucht sind. In Westafrika werden nicht nur die französischen Truppen vertrieben, sondern es bilden sich auch zwei gegensätzliche Militärbündnisse, die Ecowas auf der einen und Niger mit seinen Verbündeten auf der anderen Seite. Die Tuareg in Mali kämpfen in den Wüstengebieten erfolgreich gegen die Regierung. Die Kurden streben ebenfalls nach einem eigenen Staat und die Türkei interveniert u. a. deshalb immer wieder in Syrien, wo amerikanische Luftwaffenbasen von Gruppen aus dem Irak, Syrien etc. angegriffen werden. China steht im Konflikt mit mehreren südostasiatischen Ländern (Vietnam, Philippinen) um Seerechte und Kleinstinseln im Chinesischen Meer, die es nach und nach besetzt, und die Wiederangliederung von Taiwan ist nur eine Frage des geeigneten Zeitpunktes. Selbst zwischen Venezuela und Guayana werden längst als bewältigt angesehene Territorialstreitigkeiten wieder zum Thema. In Europa entstehen Begehrlichkeiten an der zusammenbrechenden Ukraine. Polen ließ etwa verlauten, dass Gebiete der Westukraine einstmals zu Polen gehörten und es werden Stimmen laut, die darauf drängen, hier Gebiete zurückzugewinnen. Es dauerte nicht lange, da wies auch Ungarn auf ungarische Minderheiten in der Westukraine hin, die eigentlich zu Ungarn gehören würden. Und nun auch noch Gaza, das die gesamte arabische Welt zum Kochen bringt und dazu führt, dass Iran, Jemen und der Libanon bereits mit Waffenlieferungen und militärischen Aktionen gegen Israel auftreten.
In den letzten Jahren konnte viele Krisen durch militärische Intervention unterdrückt werden. Doch der selbsternannte Weltpolizist USA kann nicht mehr alle Konflikte auf dem Planeten niederringen, er ist finanziell am Ende und Ansehen und Macht sind auf dem absteigenden Ast. Auch wenn seine Flugzeugträgerflotten noch verheerende Vernichtungskraft besitzen, zeigen russische, chinesische und indische Kriegsschiffe mit ihren Raketenwaffen, dass sie nicht mehr allein im Ozean fischen. Mit jedem Konflikt steigt die Gefahr, dass diese Mächte direkt aneinandergeraten. 1914 wollte niemand einen Krieg. Doch mit dem Attentat auf dem österreichischen Thronfolger rutschte man hinein. Auch heute will niemand einen Weltkrieg. Wird irgendein Anlass ihn doch entfachen?
Ökonomisch zeigen sich ebenfalls einige Parallelen. Das Erdbeben in San Francisco 1906 verursachte einen erheblichen Abfluss von Geld aus den Versicherungen der Ostküste der USA. In Kombination mit maßlosen Spekulationen an der New Yorker Börse kam es 1907 zur Bankenkrise (sog. Panik von 1907), der größten Finanzkrise seit Bestehen der USA. Die Folge war ein Rückgang der Industrieproduktion um elf Prozent, eine hohe Zahl an Konkursen sowie eine Verdopplung der Arbeitslosenzahlen. Trotz Gründung der amerikanischen Zentralbank (FED) 1912, wurde auch die europäische Wirtschaft geschwächt und die ökonomische Stimmung blieb bedrückend.
Ähnlich sieht es derzeit aus. Firmenpleiten, Anstieg der Arbeitslosigkeit und fehlendes Vertrauen in den Bankensektor und die Börsen führen erneut zu ökonomischen Rückschlägen bei vielen Menschen. Damit verbunden ist eine Inflation, wie sie Europa seit langem nicht mehr gekannt hat, die bei jedem Lebensmitteleinkauf offensichtlich ist und die Zahl der Besucher an den Tafeln immer weiter in die Höhe schnellen lässt. Und das Ende dieser Krise ist noch lange nicht absehbar.
Noch etwas anderes gleicht der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, nämlich ein Gefühl von Kriegsbereitschaft bei gleichzeitiger depressiver Stimmung. Martialische Rhetorik war zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei den Großmächten gang und gäbe. Ebenso eine Verherrlichung von Militär, Paraden und siegreichen Schlachten. Kriegervereine gab es nahezu in jedem Ort und im Militär wartete man nur darauf, sich heldenhaft beweisen zu können.
Heutzutage liefern die Europäer Waffen in die Krisengebiete, egal ob Ukraine, Israel oder sonstwo, und stehen fest zur amerikanischen Aggressionspolitik. Demonstrationen des islamischen Lagers sowie die Kontrahenten in den Krisenregionen zeigen hohe Gewaltbereitschaft und rufen ungestraft zum Krieg auf. Und selbst die ehemaligen Friedensparteien SPD und Grüne haben den Krieg für sich entdeckt. Wer es wagt, sich dennoch für Frieden einzusetzen, wird selbst von einem Bundeskanzler als „gefallene Engel aus der Hölle“ gescholten. Der israelische Energieminister Katz äußerte bereits: „Wir befinden uns im Dritten Weltkrieg“. Wir wollen es nicht hoffen.
Vor dem ersten Weltkrieg war die Kriegsrhetorik der Herrschenden mit einer höchst depressiven Stimmung in der Bevölkerung verknüpft. „Neurasthenie“ hieß es damals. Der Historiker Joachim Radkau sprach treffend vom „Zeitalter der Nervosität“. Die Menschen konnten den gesellschaftlichen Druck mit seinen vielen Konventionen nicht mehr ertragen und immer mehr „Nervenheilanstalten“ wurden gegründet, um der größer werdenden Zahl an „nervlich“ Erkrankten Herr zu werden. Siegmund Freud begründete in diesen Jahren seine Theorien über die psychische Natur des Menschen und schuf damit eine neue Wissenschaft. So hatte die überforderte Masse der Menschen den Kriegsallüren der Herrschenden nichts entgegenzusetzen. Und als der Krieg schließlich ausgebrochen war, öffnete sich ihre Niedergeschlagenheit. Schon Spinoza wusste, dass ein Affekt durch einen stärkeren Affekt beendet werden kann. So wandelte sich die Depression in eine Kriegsfreude, so dass die Truppen singend und fröhlich an die Front fuhren. Egal was geschehen sollte, Hauptsache man war aus der psychischen Depression heraus. Das kostete dann Millionen an Toten.
Heute ist die Agonie unter den Menschen in der westlichen Weltähnlich. Der Einsatz für Frieden, Freiheit, Demokratie und menschliche Werte kommt über die bequeme deutsche Couch vor dem Staats-TV meist nicht hinaus. Spätestens seit der Coronazeit beugen sich die Kleinbürger willig jeder Behördenwillkür, akzeptieren gehorsam Lockdown, Genänderung, Wärmepumpe und Klimawahn. Sie zahlen brav ihre GEZ-Gebühr und halten sich an die hunderttausendste Tempo-30-Zone, nur um bloß ungestört vor sich hin zu dösen, auch wenn die Faust oft in der Tasche geballt ist. Dabei werden sie immer kränker, die Krankenstände sind auf Rekordhöhe. Und im Inneren der Bürger sieht es ebenso krank aus; Stress und Unruhe, Depressivität, Unsicherheit und Angst herrschen vor, das was man vormals als „Nervosität“ bezeichnete. Und dabei wird die Suche nach Terminen beim Psychologen immer aussichtsloser. Auf diese Massendepression wird mit noch mehr Rückzug ins Private reagiert, in der Hoffnung, alles wird wie früher. Doch das wird nicht geschehen. Diese Menschen leben innerlich auf einem Pulverfass, das lediglich wieder eines starken Affektes bedarf, um es zur Detonation zu bringen. Vieles kann wieder als solcher Affekt dienen, Preissteigerung, Armut, ein imaginärer oder tatsächlicher Feind, Gewalt, Mord oder Tod. Oder eben ein Krieg. Dann sind die Menschen aus ihrer psychischen Krise heraus, leiden dann aber unter ganz anderen Schrecken. Nicht gerade rosige Aussichten.
Der Erste Weltkrieg brachte als erster industrieller Krieg millionenfachen Tod, Grauen und Zerstörung. Wie schlimm würde es erst bei der derzeitigen Waffentechnik, geschweige denn bei einem Atomkrieg. Haben wir in über einem Jahrhundert nichts gelernt? Rutschen wir wieder scheinbar unbemerkt in eine weltweite Katastrophe?
Frieden, Wohlstand, Zufriedenheit, Glück, unsere ersehnten Ziele der Menschlichkeit geraten immer mehr ins Hintertreffen und stattdessen gleiten wir erneut in eine Situation, die immer mehr an die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg erinnert, als niemand Krieg und Not wollte, aber die Regierungen alles taten, dass er kaum noch vermeidbar wurde.
Was wir jetzt brauchen, ist eine Friedenspolitik, wie sie Deutschland vor 1990 fast dreißig Jahre lang erfolgreich betrieben hat. Statt Waffenlieferungen und Kriegsrhetorik braucht es eines weisen Vermittlers, der aufklärt, der die konträren Lager an einen Tisch holt, der Kompromisse vorschlägt und immer und immer wieder an den Frieden appelliert. Und einer Regierung, die nicht den Mächtigen oder irgendwelchen Ideologien dient, sondern allein dem Wohl der Menschen.